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Ein Interview mit Scheich Ragip Frager al-Jerrahi

Die tyrannischen Nafs zähmen

WIE: Was ist das Ego?

SCHEICH RAGIP: Es ist interessant, dass bei der Übersetzung von Freuds Schriften ins Englische das, was als „das Ego“ übersetzt wurde, auf Deutsch „das Ich“ ist, was „the I“ bedeutet. Also basieren unsere modernen Theorien über die Persönlichkeit auf dieser Idee, dass das Ego das „Ich“ ist; es ist mein Gefühl von dem, wer ich bin. Und der Sufismus würde mit dieser Definition vollkommen übereinstimmen. Im Sufismus heißt es, dass dieses Gefühl von sich selbst, das, was dort die „persönliche Seele“ genannt wird, aus unserer Fähigkeit erwächst, uns selbst zu objektivieren, uns als ein Objekt zu sehen. Nun gibt uns unsere Fähigkeit, das zu tun, eine ungeheure Kraft zu handeln und zu planen; sie gibt uns eine immense Kontrolle. Aber das Problem ist, dass in dem Moment, wo man sagt: „Es gibt ein ‚Ich‘ - hier bin ‚ich‘, ein Objekt,“ man sich per definitionem auch von der Welt abtrennt. Wenn ich „ich“ sage, setzt das sofort Dualismus voraus. Da es „ich“ gibt, muss es auch den „anderen“ geben. Vom Standpunkt der Sufis gesehen suchen wir aber die Einheit - und dieser Dualismus, der so mächtig ist, ist eine der größten Blockaden, um Einheit zu erreichen. Wer möchte das „Ich“ aufgeben? Wir wollen nicht uns selbst aufgeben; wir hängen schrecklich an diesem Gefühl von „Wer bin ich?“
Grundsätzlich also ist die Wurzel des Ego dieses Gefühl von Getrenntsein oder Individualität. Wir identifizieren uns mit diesem Getrenntsein, anstatt uns mit dem Göttlichen in uns zu identifizieren. Und in dem Maße, in dem wir am Inhalt unseres Selbst, an unserem Selbstbild oder an unserem Getrenntsein hängen, halten wir uns selbst davon ab, den spirituellen Weg wirklich zu beschreiten. Das ist einer der Faktoren, die uns von unseren tiefsten mystischen Erfahrungen abhalten, denn oft löst sich in diesen Erfahrungen das Empfinden eines getrennten Selbst auf. Einer meiner alten Kollegen sagte einmal: „Jeder will Gott, kämpft aber wie der Teufel, um die Vereinigung zu vermeiden!“

WIE: In Ihrem Buch Heart, Self and Soul (Herz, Selbst und Seele) definieren Sie das Ego auch als „die Ansammlung all der Kräfte in uns, die uns vom spirituellen Pfad abbringen“. Ist das Ego, so wie Sie es hier beschreiben, das, was im Sufismus die „tyrannischen Nafs“ genannt wird?

SR: Ja. Im Sufismus sind die niedrigste Ebene der Nafs oder des Selbst die Nafs Ammara, oder die tyrannischen Nafs, was sich auf all die Kräfte in uns bezieht, die uns in die Irre führen. Und auf dieser Ebene sind wir uns ihrer auch nicht bewusst, wir verneinen sogar ihre Existenz, ganz ähnlich einem Süchtigen, der sagt: „Ich habe kein Alkoholproblem. Ich trinke nur ein wenig zum Frühstück, ein wenig zum Mittagessen und ein wenig zwischendurch, aber ich habe kein Problem.“ Es ist dieses Negieren, diese Unbewusstheit, was den tyrannischen Nafs so unglaublich viel Macht gibt. Und viele von uns stecken mehr in dieser Phase, als sie es wahrhaben wollen. Ich glaube, es ist ein Zustand, in den man hineinfällt, zum Beispiel, wenn man auf der Autobahn geschnitten wird, oder wenn jemand grob ist oder deinen Stolz beleidigt oder dich wütend macht. Wir steigen zu dieser Ebene der Unbewusstheit hinab. Sie hat also unglaublich viel Macht.
Nun spricht der Sufismus von den Nafs als etwas, das sich in Stadien oder Ebenen bewegt, und die zweite Ebene wird die „selbstbezichtigenden Nafs“ oder „bedauernden Nafs“ genannt. In diesem Stadium nimmt man sie bewusster wahr, aber man ist immer noch davon gefangen. Es ist so wie: „Ich weiß, ich werde das Falsche sagen, ich hoffe, ich kann damit aufhören … oh verdammt, da haben wir’s ….,“ und man beginnt den Satz und man weiß, dass man jetzt den Mund halten sollte, kann es aber nicht; man sagt es einfach. In dieser Phase erkennen wir wenigstens, dass wir nicht mehr in unserer Mitte sind - wir sind in den Klauen von etwas, das nicht die höchste Ebene unseres Bewusstseins ist - , aber wir lassen es trotzdem zu, obwohl wir wissen, dass wir getrieben sind.
Und dann, wenn wir weiterarbeiten und klarer sehen, wenn wir versuchen, stattdessen Gutes zu tun und über die Namen Gottes zu meditieren, was alles positive Eigenschaften sind, dann schwächen wir idealerweise nach und nach diese Kräfte und bewegen uns aus ihrer Dominanz heraus. Aber sogar dann können diese Kräfte in bestimmten Situationen wieder aufleben. Wir haben sie vielleicht neunundneunzig Prozent der Zeit unter Kontrolle, aber sie sind trotzdem vorhanden, außer vielleicht bei den allerhöchsten Heiligen. Es gibt eine klassische Geschichte vom Propheten Mohammed (Friede und Segen möge mit ihm sein), wo er am späten Abend zum Gebet in die Wüste hinausgeht. Und seine junge Frau Aisha denkt, er geht weg, um eine andere Frau zu treffen. Als er also in die Stille der Wüste hinausgeht, stampft sie hinterher. Er sieht sie an und sagt: „Oh Aisha, hast du deinen kleinen Satan mitgebracht?“ Und sie sagt: „Was für einen kleinen Satan?“ Er sagt: „Jeder Mensch hat einen Kobold, einen kleinen teuflischen Teil, seine Nafs.“ Und sie fragt: „Sogar du, oh Prophet Gottes?“ Und er sagt: „Ja, auch ich. Aber ich habe aus meinem einen Muslim gemacht.“ Es gibt noch eine andere Übersetzung: „Ich habe meinen unterworfen,“ denn „Muslim“ bedeutet: Jemand, der sich unterwirft. Die großen Heiligen demonstrieren oft eine absolut außergewöhnliche Geduld und Selbstbeherrschung in Situationen, in denen wir anderen wissen, dass wir explodieren würden, aber ich glaube, dass dieses Potenzial, in Versuchung geführt zu werden, in jedem, außer in den größten Heiligen, theoretisch noch vorhanden ist.

WIE: Stellt sich diese Versuchung anders dar, wenn man Fortschritte auf dem Pfad macht?

SR: Ja. Wenn wir zum Beispiel bei den Stadien der Nafs bleiben, kommt nach den bedauernden Nafs das, was wir die „inspirierten Nafs“ nennen, unser inspiriertes Selbst, bei dem die Weisheit des Herzens, die Weisheit dieses inneren Lichts immer mehr Platz in der Persönlichkeit, im Bewusstsein, gewinnt, sodass wir jetzt wirklich eine Alternative zu den Kräften des Ego haben - was Intuition ist, ein Empfinden des Geführtseins, das Empfinden, mit der Wahrheit verbunden zu sein. Das Problem ist, dass die niederen Kräfte irgendwie weiteragieren. Die Herrschaft des Ego ist keineswegs zu Ende, und die größte Gefahr ist natürlich die, dass das Ego jetzt die Weisheit und das Licht zur Selbsterhöhung benutzen kann, um sich aufzublasen, anstatt sich zu verkleinern. Im Idealfall sagt man: „Das ist nicht mein Licht, das ist nicht meine Weisheit. Es ist etwas, das durch mich durchkommt. Es kommt aus einer anderen Quelle.“ Aber das Ego will sagen: „Das ist meine Weisheit. Ich weiß.“
Vor kurzem ist ein interessantes Buch von Mariana Caplan erschienen, Halfway Up the Mountain (Auf halbem Weg den Berg hinauf) - was eine schlechte Metapher ist, weil es sich vermutlich um einen endlosen Berg handelt - , aber darin ist von den vielen Gefahren die Rede, die bei spirituellen Lehrern bestehen, die den Berg halb erklommen haben, aber irgendwie in dieser Phase stehengeblieben sind. Es ist die bei weitem gefährlichste Phase, denn wenn das Ego von wirklicher Weisheit und wirklichem Licht überflutet ist, dann ist es sehr schwierig, Dinge zu verändern. Weil das Licht echt ist und die Weisheit echt ist. Das Problem ist nur, dass das Ego anfängt, sich das selbst zuzuschreiben und nicht etwas Größerem als sich. Und so wird das Ego fester, es kristallisiert sogar; aber wir wollen natürlich, dass das Ego transparenter wird, weniger eine „Sache,“ leichter.

WIE: Der Sufismus hat ein tausend Jahre altes Erbe von Heiligen, lebenden Verkörperungen des Göttlichen, die mit ihrem eigenen Leben die Möglichkeit eines Lebens demonstriert haben, das frei ist von der Tyrannei des Ego. Wie verändert sich der Ausdruck der Persönlichkeit eines Menschen, der über das Ego hinausgeht?

SR: Er hat immer noch seine Persönlichkeit, aber man könnte in gewisser Hinsicht sagen, dass er nicht von seiner Persönlichkeit bestimmt wird. Er bestimmt seine Persönlichkeit. Man könnte auch sagen, dass die Persönlichkeit schöner geworden ist. Sie ist durchdrungen von Licht und Liebe. Es ist noch immer eine Persönlichkeit, es ist auch nicht so, dass sie sich alle ähnlich werden, wie ein Vanille-Shake-Scheich. Sie sind alle verschieden. Aber es ist Schönheit da, weil die Persönlichkeit wie ein Gefäß geworden ist, das die Göttlichkeit enthält. Wie ein Tongefäß, das seinen Inhalt aufsaugt, wird die Persönlichkeit dadurch, dass sie die Göttlichkeit in sich enthält, von den göttlichen Eigenschaften von Liebe, Licht, Großzügigkeit und göttlichem Mitgefühl durchdrungen. Und um bei derselben Metapher zu bleiben: das Gefäß tropft jetzt nicht mehr.
Einer meiner Lehrer sagte einmal: „Wenn du dein Leben nicht von Grund auf in Ordnung gebracht und begonnen hast, ein Leben in Gleichmut, Stabilität, im Dienst am Nächsten und in Ehrlichkeit zu leben– selbst wenn du die grundlegenden Tugenden praktizierst und dann noch meditierst oder andere spirituelle Praktiken ausführst, dann ist das, als hätte man eine Kuh, die biologisches Gras isst und wundervolle Milch gibt, aber wenn man die Kuh melkt, fließt die Milch in einen Kübel, der kleine Löcher im Boden hat.“Eine schreckliche Verschwendung. Wahrscheinlich wirst du niemals Gebrauch von dieser Milch machen können. Die Persönlichkeit ist diesem Kübel sehr ähnlich. Gewisse Gewohnheiten wie Unaufrichtigkeit oder Ruhelosigkeit sind wie Löcher, die bewirken, dass wir den Zustand der Liebe zum Göttlichen nicht halten können. Wir verlieren ihn. Und bei den Großen passiert das nicht.

WIE: In der gesamten Sufi-Literatur wird das Ego oft als eine Art Teil der Psyche mit eigenem Willen charakterisiert, der sich unserem spirituellen Fortschritt aktiv entgegenstellt. Was ist die treibende Kraft hinter den Ego-Interessen? Worauf basiert das Dasein des Ego?

SR: Nun, darauf gibt es wahrscheinlich zwei Antworten. Die eine ist Selbsterhaltung. Das Ego fürchtet Veränderung, es hat eine Sterbensangst vor tiefer mystischer Erfahrung und Transformation, denn von seinem Standpunkt aus gesehen ist diese Art der Veränderung gleichbedeutend mit seinem Tod. Es glaubt nicht, dass es das überleben kann. Und wahrscheinlich stimmt das auch. Es ist also ein Überlebensmechanismus. Es ist der Teil in jedem von uns, der derselbe zu bleiben wünscht, eine Art Trägheitsprinzip in uns allen, das sagt: „Verändere dich nicht.“
Ein weiterer Aspekt ist der, dass das Ego nach Meinung der Sufis mit dem Satan, dem Teufel, in Verbindung steht. Und es ist interessant: Jung sagt etwas ganz Ähnliches über den Schatten. Einerseits ist es das, was wir in uns nicht sehen oder nicht akzeptieren, er sagt aber auch, es sei mit größeren kosmischen Kräften verbunden, dem, was wir „satanische Kräfte“ nennen. Und darüber spricht niemand gern. Es ist nicht sehr populär. Zurzeit unterrichte ich eine der neuen religiösen Gruppen, die sehr auf positives Denken konzentriert sind, in spiritueller Psychologie, und immer dann, wenn ich darauf zu sprechen komme, ist es, als hätte ich eine ihrer heiligen Kühe angetastet. „Wie können Sie sagen, dass das Böse existiert? Das Universum ist gut, Gott ist gut!“ Und ein Teil von mir versucht zu sagen: „Moment mal, da, wo Licht ist, ist auch Schatten.“
Es ist wohl nicht ganz falsch, die Nafs gelegentlich so zu sehen, als hätten sie Motive wie ein Mensch. Auf der einen Ebene ist das eine Metapher, aber auf einer anderen Ebene hat man auch das Gefühl, dass sie wie Wesenheiten agieren. Scheich Tosun Bayrak hat das Ego oft als „Dieb“ bezeichnet, als etwas, das den Wunsch hat, uns das, was schön und wertvoll in unserem Leben ist, zu stehlen. Es ist beinahe so, als sei es ein Diener des Satans, dessen Aufgabe es ist, unseren Glauben auf die Probe zu stellen. Tatsächlich sagte er auch manchmal zu uns: „Seid besonders vorsichtig, nachdem ihr auf einer Hajj (Pilgerreise nach Mekka) gewesen seid, nachdem ihr wirklich ein bisschen spirituelle Arbeit geleistet habt, denn normalerweise gehen Diebe nicht in leere Häuser, aber wenn es dort etwas zu holen gibt …“ Wenn man sich entwickelt, wenn man sich verändert, kann in gewissem Sinne geradezu eine Gegenkraft aktiviert werden.

WIE: Welche Empfehlung gibt der Sufismus, damit wir uns gegen diese unterminierende Kraft in unserer eigenen Psyche schützen können?

SR: Eine Möglichkeit, die Scheich Tosun diesbezüglich genannt hat, ist: „Was machst du, wenn ein Dieb nachts in dein Haus kommt? Du bist im Schlafzimmer und du hörst den Dieb herumschleichen, du hörst, wie die Kerzenleuchter in seiner Tasche verschwinden. Wenn du mit einem Messer in der Hand hinunterstürzt, dann hat auch der Dieb ein Messer. Wenn du eine Pistole in der Hand hast, dann hat auch der Dieb eine Pistole. Alles, was du im Haus hast, das hat auch der Dieb. Die eingesetzte Gewalt wird sich reflektieren, und das Ganze wird furchtbar destruktiv sein.“ Was ist also zu tun? Er gab folgende Antwort: „Mach das Licht an!“ Denn der Dieb ist ein Feigling, und wenn man das Licht des Bewusstseins auf den Vorgang fallen lässt, dann flieht der Dieb. Man kämpft nicht. Sehen Sie, das Dümmste auf der Welt ist es, mit dem Satan zu kämpfen. Es gibt im Sufismus und anderswo eine Menge großartiger Geschichten, die zeigen: wenn man versucht, mit dem Satan zu kämpfen, rate, wer gewinnt? Das ist eine sehr schlechte Idee.

WIE: Im Koran gibt es eine berühmte Passage, wo Mohammed bei seiner Rückkehr aus dem Kampf zu seinen Getreuen sagt: „Wir lassen jetzt den kleinen heiligen Krieg hinter uns, um den großen heiligen Krieg zu führen - den Krieg gegen die Nafs.“ Wie beurteilen Sie angesichts dessen, was Sie über das Nicht-Kämpfen gegen das Ego gesagt haben, diese häufig zitierte Metapher des Propheten über den spirituellen Kampf?

SR: Ich glaube, dass es für die damalige Zeit eine perfekte Lehre war. Man muss aber den Kontext verstehen. Die Muslime waren gerade aus dem Kampf gegen die Bewohner von Mekka zurückgekommen, die mehr Geld, mehr Kavallerie, eine bessere Ausrüstung, bessere Rüstungen und bessere Waffen hatten. Aber mit Hilfe des Glaubens, der eigenen Anstrengung und mit der Gnade Gottes haben sie gewonnen. Sie kommen also erschöpft zurück, aber mit dem Gefühl: „Wow, wir haben es geschafft! Wir sind große Krieger, seht nur, was wir geschafft haben! Wir haben sie fürchterlich verdroschen! All die Ungläubigen aus Mekka, wir haben sie in den Hintern getreten!“ Und da sagte Mohammed: „Jetzt ziehen wir in den großen Krieg!“ Damit bezog er sich auf dieses Quentchen Stolz.
Ich glaube, das Problem liegt darin, wozu wir tendieren, wenn wir „heiliger Krieg“ hören - es kann zu leicht ein Schwarz-Weiß-Bild entstehen. In einem Krieg weiß man, wer die Verbündeten sind, und man weiß, wer die Feinde sind. Aber der spirituelle Weg ist sehr viel subtiler. Die Nafs sagen dir niemals: „Ich bin dein Feind. Ich werde dich von deinem spirituellen Weg abbringen. Ich möchte, dass du etwas weniger meditierst. Ich möchte, dass du dich etwas weniger bemühst. Ich will dich festnageln!“ Das tun sie nicht. Sie sagen vielleicht: „Du bist gereist, warum entspannst du nicht ein wenig? Erschöpfe dich nicht; schlafe ein wenig mehr. Das ist gut für deine Gesundheit. Ich bin dein Freund. Mir liegt nur dein Wohlergehen am Herzen.“ Die Sache ist also kompliziert.
Ich meine auch, dass es keine glückliche Wahl ist, wenn wir es, wie es häufig geschieht, den „heiligen inneren Krieg“ nennen, denn Krieg klingt sehr gewalttätig. Ich meine, es wäre sehr viel klüger zu sagen, dass es sich dabei eigentlich um eine innere Schulung handelt - ein bisschen, wie man einen schönen, intelligenten Hund oder ein Pferd trainiert oder in gewisser Weise auch ein Kind. Ich meine, dass Transformation durch Liebe sehr viel gesünder und vernünftiger ist.

WIE: Im Sufismus wurde die Beziehung zum Scheich, zum Lehrer, schon immer als überaus wichtig angesehen, um dem Derwisch zu helfen, über das Ego hinauszugehen. Ein Zitat von Rumi sagt: „Wer ohne Führer reist, braucht zweihundert Jahre für eine Zweitagesreise.“In welcher Weise hilft die Beziehung zum Scheich dem Derwisch, das Ego hinter sich zu lassen?

SR: Eine Metapher, die ich für sehr nützlich halte, stammt von einer deutschen Psychologin, die auch Sufi ist. Sie sagte: „Man kann sich selbst klar genug sehen, um geringfügige Veränderungen bei sich zu bewirken, so wie man eine kleine Schnittwunde selbst verbinden kann. Aber grundlegende Veränderungen kann man nicht selbst bei sich bewirken, weil man sich selbst zu nah ist. Man kann die Struktur nicht sehen. Man kann den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.“ Sie sagte: „Man kann zwar ein Pflaster auf seine eigene Schnittwunde kleben, man kann sich aber nicht selbst den Blinddarm herausnehmen.“ Und diese Art von Operation ist mit der Hilfe vergleichbar, die der Scheich dir geben kann, nämlich bei einer einschneidenden Veränderung. Vieles kann man selbst machen, es gibt aber gewisse tiefere Ebenen, an die man selbst einfach nicht herankommt. Das kann man nicht.

WIE: Im Westen sind heute immer mehr spirituell Praktizierende der Meinung, dass es nicht notwendig ist, einen spirituellen Lehrer oder Führer zu haben. Bestärkt durch die antiautoritären Lehren von Andrew Harvey und einigen anderen, versuchen jetzt immer mehr Menschen, sich selbst jenseits des Ego zu führen, und wählen dazu oft aus verschiedenen Traditionen die Praktiken und Ideen aus, von denen sie das Gefühl haben, dass sie ihrer Suche am dienlichsten sind. In Essential Sufism schreiben Sie: „Das Ego hat Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, und noch mehr Angst davor, sich aufzulösen, und holt eine Begründung nach der anderen hervor, um nicht loslassen zu müssen …“ Meinen Sie, ganz allgemein gesehen, dass dieser Impuls, den spirituellen Weg solo zu beschreiten - ohne Lehrer - , möglicherweise nur eine weitere Manifestation des unerbittlichen Ziels des Ego ist, in unserem Leben die Kontrolle zu behalten?

SR: Ja. Ich glaube, so könnte man es sehen. Aber etwas dabei ist paradox. Meine Lehrer sagten mir nur selten, was ich tun sollte. Auf einer Ebene musste ich die Arbeit selbst leisten. Ich musste meine Gebete selbst sprechen. Mein geliebter Freund Haridas Baba sagte vor vielen Jahren: „Ich kann für dich kochen, aber ich kann nicht für dich essen.“ Der Lehrer kann also ein Bankett geben, aber man muss dann selbst hingehen. Kann man das mit dem Bankett tun, das in all den wunderbaren Taschenbüchern zu DM 14,80 oder 29,90 erhältlich ist? Nun, manche Menschen würden das bejahen. Meine eigene Erfahrung ist, dass ich enorm viel Inspiration von meinen Lehrern erhalten habe. Ich glaube nicht, dass ich die Geduld gehabt hätte, auf diesem Weg auszuharren, wenn da nicht die Liebe, die Akzeptanz und das Beispiel meiner Lehrer gewesen wäre. Ich bin nicht sicher, ob ich den Mut gehabt hätte, mich selbst ehrlich und klar zu sehen, wenn ich nicht gefühlt hätte, dass sie mich klar sahen und trotzdem liebten und akzeptierten.
Aber ich meine, von noch grundlegenderer Bedeutung ist es, dass der Lehrer eine sehr starke Modellfunktion hat, dass er als Beispiel zeigt, dass Transformation möglich ist. Wie kann man wissen, dass es möglich ist? Da ist jemand, dessen Persönlichkeit sich verändert hat, dessen Gefäß von Licht und Liebe durchdrungen ist. Und ich glaube, dass es auch noch esoterischere Aspekte gibt. Ich denke, bestimmte Praktiken haben - ehrlich gesagt - keine Kraft, wenn sie nicht von einem Lehrer gegeben werden. Sie funktionieren nicht. Ich glaube daher, dass diese ganze Geschichte, sein eigener Lehrer sein zu wollen, die Bedeutung von Übertragung, spiritueller Herkunft und Einweihung missachtet. Der spirituelle Weg ist nicht nur logisch und mechanisch. Er ist kein psychologisches oder spirituelles Bodybuilding. Er ist etwas sehr viel Subtileres. Ich glaube, es besteht eine energetische Verbindung zum Lehrer. Wir sprechen im Sufismus von Rabita al Kalb, der Herzensverbindung.
Ich bin aber auch der Meinung, dass es Fälle gegeben hat, wo diese Verbindung ohne einen lebendigen Lehrer hergestellt worden ist. Ich glaube, der heilige Franz von Assisi hat es durch Jesus getan. Aber das ist selten. Wie viele von uns sind ein heiliger Franz von Assisi? Sehr wenige. Und meine Lehrer haben auch halb im Scherz gesagt, dass es besser ist, einen toten Lehrer zu haben als einen lebenden Lehrer, weil er einem viel weniger Schwierigkeiten macht. Er wird nicht laut. Er kritisiert nicht. Er sagt nur: „Liebe, sei glücklich, mach dir keine Sorgen,“ denn was sonst soll er in seinen Schriften zu einem sagen? Er kann nicht auf sanfte oder weniger sanfte Art sagen: „Du weißt selbst, was du tust, wenn du deine Übungen machst. Warum versuchst du nicht, das nicht mehr zu tun?“ Wenn man daran geht, sich mit den subtilen Tricks der Nafs auseinander zu setzen, ist es sehr nützlich, einen Lehrer zu haben, denn manche Menschen verirren sich im Wald, ohne es zu merken. Man braucht wirklich jemanden, der sagt: „Wach auf, Junge! Du hast gerade eine Neunzig-Grad-Biegung gemacht und weißt es nicht.“

WIE: Sie sagten vorhin, dass das Ego als Reaktion auf unsere spirituellen Bemühungen scheinbar stärker werden kann. In Heart, Self and Soul beschreiben Sie auch, wie Ihre erste bewusste Erfahrung der tyrannischen Nafs, dem negativen Ego, sofort in Ihnen auftauchte, als Sie sich dafür entschieden hatten, formell darum zu bitten, Derwisch (Eingeweihter im Sufismus) zu werden. Warum wird das Ego scheinbar sichtbarer, wenn man das Engagement im spirituellen Weg vertieft?

SR: Also ich glaube, die meisten Menschen befinden sich, insbesondere bevor sie die spirituelle Suche aufnehmen, absolut unter der Herrschaft der tyrannischen Nafs. Wenn wir aber die Metapher des Pharaos heranziehen, des inneren Tyrannen, wer ist der beste Herrscher? Der Herrscher muss die Truppen nicht dazu motivieren, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Herrscher gibt Befehle und alle sagen: „Wir müssen gehorchen.“ Die Autorität des Herrschers wird nicht in Frage gestellt. Ich habe den Eindruck, dass es der Herrscher leicht hat, solange man noch nicht auf dem spirituellen Weg ist, denn da gibt es keine Opposition. Es gibt keine Rebellion. Wenn wir uns aber auf den spirituellen Weg begeben, gibt es Rebellion, und dann werden die Kräfte der tyrannischen Nafs, die im Untergrund waren, die versteckt waren, plötzlich sichtbar. Dieses Sichtbarwerden bedeutet in Wirklichkeit eine Schwächung ihrer Kräfte, weil sie nicht mehr unbewusst sind. Aber was paradoxerweise geschieht, wenn wir uns auf den spirituellen Weg begeben, ist, dass man mit einem Mal die Macht der Nafs sieht, und man denkt dann: „Oh mein Gott! Es steht noch viel schlechter um mich, als ich dachte.“ Das Problem ist, dass man vorher einfach nicht wusste, in welch schlechtem Zustand man war. Man wurde davon bestimmt. Man hat nicht dagegen gekämpft. Wenn man es also zum ersten Mal sieht, ist es ein Schock.
Für uns ist es eine der größten Segnungen, dass wir im Monat des Ramadan von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang fasten. Einer der Gründe ist, dass es ein unglaublicher Spiegel für die Nafs ist. Wir werden reizbar. Wir sagen: „Ich mag nicht fasten. Ich möchte schlafen.“ Oder „Ich muss heute Auto fahren. Vielleicht sollte ich nicht fasten.“ Wir fangen an, die Stimme der Nafs zu hören. Und eine der großen Segnungen, die im Fasten oder in irgendeiner anderen asketischen Praxis liegt, ist es, die Stimme zu hören, die sich entgegenstellt, die sagt: „Tu das nicht. Ich mag das nicht.“ Es ist ein bisschen wie im Zauberer von Oz. Da ist eine sehr laute kräftige Stimme und man denkt: „Ganz klar, dem muss man folgen.“ Aber in der Zwischenzeit sagt jemand: „In Wirklichkeit ist das nur der kleine Mann hinter dem Vorhang.“ Denn je deutlicher man es sieht, desto mehr sieht man auch, dass es ein Taschenspielertrick ist, und desto weniger Macht hat es. Aber man muss es sehen.Für uns ist es eine der größten Segnungen, dass wir im Monat des Ramadan von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang fasten. Einer der Gründe ist, dass es ein unglaublicher Spiegel für die Nafs ist. Wir werden reizbar. Wir sagen: „Ich mag nicht fasten. Ich möchte schlafen.“ Oder „Ich muss heute Auto fahren. Vielleicht sollte ich nicht fasten.“ Wir fangen an, die Stimme der Nafs zu hören. Und eine der großen Segnungen, die im Fasten oder in irgendeiner anderen asketischen Praxis liegt, ist es, die Stimme zu hören, die sich entgegenstellt, die sagt: „Tu das nicht. Ich mag das nicht.“ Es ist ein bisschen wie im Zauberer von Oz. Da ist eine sehr laute kräftige Stimme und man denkt: „Ganz klar, dem muss man folgen.“ Aber in der Zwischenzeit sagt jemand: „In Wirklichkeit ist das nur der kleine Mann hinter dem Vorhang.“ Denn je deutlicher man es sieht, desto mehr sieht man auch, dass es ein Taschenspielertrick ist, und desto weniger Macht hat es. Aber man muss es sehen.
Sehen Sie, die Gefahr ist, dass das bei asketischen Praktiken nicht immer der Fall ist. Purohit Swami, einer der großen indischen Lehrer dieses Jahrhunderts, hat eine vorzügliche Übersetzung der Yoga-Sutras von Patanjali gemacht, wo er sagt: „Ich habe viele Menschen getroffen, die Hatha Yoga praktizierten, die alle einen starken Willen und große Fähigkeiten und viel Kraft entwickelt hatten - und im Verlaufe dessen auch ein sehr starkes Ego.“ Wenn man also nur asketische Praktiken macht ohne den Kontext, dass das eine Disziplin ist, um sich selbst zu sehen, dann besteht natürlich die Gefahr, dass man das Ego nährt: „Ich habe einen Monat lang gefastet!“ Es ist interessant, dass man im Islam nicht länger als einen Monat fasten darf. Das entstand z.T. deswegen, um das Problem der Wichtigtuerei anzugehen: „Also du hast nur neunundzwanzig Tage gefastet; ich habe fünfunddreißig Tage gefastet!“ In asketischen Praktiken liegt nämlich ein unglaubliches Potenzial, dass wir uns wichtig machen; wenn wir sie aber andererseits in diesem Kontext einsetzen: „Schau, was passiert, beobachte den Prozess,“ dann können sie das Ego auch wirklich beträchtlich schwächen.

WIE: Bei den Recherchen zu dieser Ausgabe haben wir erfahren, dass orthodoxe Asketen im Christentum oft aufgefordert werden, ihre Disziplin ein wenig abzumildern, wenn sie Gäste haben, damit sie nicht mit ihren großartigen asketischen Leistungen prahlen können.

SR: Im Sufismus gibt es eine Tradition, die eine sehr starke Betonung darauf legt, das Ego auf diese Weise zu schwächen. Das ist die Malami-Tradition, oder „der Weg des Makels“. Da sie wissen, dass es der Wunsch des Ego ist, gut dazustehen, lassen sich die Malamis entweder nicht sehen, wenn sie praktizieren, oder sie schwächen ihre Praxis vor anderen Menschen absichtlich ab, damit diese denken, sie würden eigentlich gar nicht so viel praktizieren. Die Malamis tragen zum Beispiel fast nie besondere Kleidung. Sie haben nicht einmal einen speziellen Ort, wo sie sich treffen. Sie vermeiden dieses ganze Drumherum, denn sie wissen, dass das Ego das Drumherum liebt. Ich habe einen sehr guten Freund, der in dieser Tradition ein hoch angesehener Lehrer ist. Und ich habe gesehen, wie er unsere Moschee in Istanbul betrat und aussah wie irgendein Besucher von der Straße und nicht wie ein Lehrer, der zu Gast ist. Dabei ist er ein wunderbarer, brillanter Lehrer. Viele Sufis haben diese Eigenschaft - anstatt die Praxis anderen zu zeigen, zeigt man im Gegenteil fast absichtlich, dass man nicht praktiziert, und dann läuft man los und betet dort, wo man nicht gesehen werden kann. In diesem Sinne ist es wie Krieg. Es ist fast wie ein Krieg gegen das Ego. Es ist sehr klug durchdacht. Es ist wie: „Egal, was du willst, ich werde das Gegenteil tun. Du möchtest gut dastehen? Wir werden schlecht dastehen. Du möchtest, dass man dich sieht? Wir werden unsichtbar sein. Und immer dann, wenn wir sichtbar sind, werde ich dafür sorgen, dass wir nicht so aussehen, wie du es gerne hättest.“ Es ist eine unglaubliche Disziplin.



Geschrieben am: 01.02.2003
gelesen: 268
Autor: Craig Hamilton http://www.wie.org
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