GOTTES GRAUE LANGE OHREN

Ein Meister saß mit seinen Schülern zusammen, als ein junger Derwisch in ihrer erhabenen Runde erschien, den man den "Miesepeter" nannte, da sein Gesicht gewöhnlich ärgerliche Falten warf. Dieser Derwisch war den anderen gram und böse , weil er nicht wie sie spirituelle Erfahrungen und psychologische " peak experiences" hatte. Er fühlte sich, was seine inneren Erfahrungen betraf, wie eine Wüste, die brach lag, während seinen Gefährten das Herz vor Visionen und sonstigen Erfahrungen fast überschäumend überlief.
An diesem Tag kam er jedoch gelassen und gefaßt in ihre geistige Runde und unter seiner äußerlichen Fassung konnte man sogar ein leichtes Grinsen erkennen. Seine Brust war offenbar von Stolz erfüllt und man spürte, daß ihm in reichem Maß Genugtuung für alle Mißerfolge vorher gegeben worden war.
Der Meister wandte sich zu ihm und sprach:
"Mein junger Freund, was ist mit Dir? Du scheinst uns heute etwas Großes zu bringen ...?"
Der junge Mann blickte sich um und entgegnete ihm:
" Verzeihe mir, Meister, man soll doch, wie Du immer sagst, die Geheimnisse, die man erfährt, vor anderen verbergen ! Du hast uns doch gelehrt , über unsere inneren Erfahrungen mit niemandem zu sprechen!"
"Hiermit erlaube ich dir, über deine Erfahrung zu sprechen", sagte der Meister, " deine Brüder sind schon gespannt !"
Der Derwisch druckste und druckste, aber dann erzählte er diese ganz unglaubliche Geschichte:
" Ich habe die Stimme Gottes gehört! Mein Erlebnis war wunderbar und schrecklich zugleich! Es war ein gewaltiges Erlebnis! Ich bin noch immer ganz schockiert! Ich weiß nicht, wie es geschah, doch gestern Nacht war mit einem Mal das Antlitz Gottes vor mir!
Dann sprach mich Gott mit Seiner Stimme an. Es war ein ungeheurer Ton! Ich konnte diese Erfahrung nur für Sekundenbruchteile aushalten, bevor ich mein Bewußtsein verlor ..."
Die ganze Runde war perplex. Das hatte noch niemand gehört. Der Meister aber lächelte nur, er war die Güte in Person. Er sagte nur:
"Nun gut. Sollte Gott noch einmal zu dir sprechen, dann bringe uns einen Beweis!"
Derweil er schnell sein Schweizer-Taschenmesser zückte.
" Wenn Gott sich wieder nähern sollte - und Du den Atem Gottes spürst - dann ergreif' ihn am Ohr! Klapp' dieses Messer auf - und dann sei rücksichtslos und schneid' es ihm ab! Wir möchten von Dir Gottes Ohr! Weil Er mit uns leider nicht spricht ..."
Die Runde war zutiefst betreten, so sprach der Meister bisher nie. Den Körper Gottes mit einem Messer zu schinden, ging über ihr Verständnis.
Der junge Derwisch hatte Skrupel, da Gott als unverletzlich gilt. Doch der Gehorsam gegenüber dem Meister ist bei den Sufis eine heilige Pflicht, ganz gleich, was dieser dem Schüler befiehlt. Er war entschlossen, es zu tun.
Am Abend ging er in sein Bett, genauer gesagt in den Stall nebenan, da dort sein armes Nachlager war. Sein Körper ruckte ein paar Mal, als er vor Müdigkeit bald einnickte. Er fiel schließlich in einen leichten Schlaf, als jemand leicht wie der Wind sein immer noch grinsendes Derwisch-Gesicht wie zärtlich und gütig berührte. Und dann ...kam dieser erschreckende Ton ...! Sein Herz war plötzlich aufgewühlt bis in den letzten Winkel. Es war ein naher , starker Ton. Er hatte das Gefühl, als würden gewaltige Brücken einstürzen ...
Wie in Trance ergriff er das Messer und schnitt. Wie kühn sein Meister auch je war, in dieser Nacht war e r kühner gewesen ... Er hielt den Gottesbeweis in der Hand! Wie klein alle Philosophen der Welt im Vergleich zu diesem Derwisch waren!
Am Morgen hatte sich der Kreis der Derwische früher als sonst versammelt, man war zum Zerreißen gespannt. Mit was in der Hand würde der Derwisch erscheinen ? Doch der junge Derwisch ließ dieRunde stundenlang warten. Als er schließlich kam, hielt er die linke Hand in seiner Hosentasche.
" Setz Dich nur hin und rede zu uns", sprach der Meister ihn an. " Wir sind auf den Beweis gespannt."
Der Derwisch aber wollte den Beweis in seiner Tasche lieber nicht präsentieren.
Die Stimme des Meisters wurde ironisch:
"Nun gib schon her und zeig' es uns! Zeig' diesem Kreis Dein Eselsohr....! Nur wer wie du ein Esel ist, wird einen Eselsschrei für eine Rede Gottes halten ..."
Genau so, wie der Meister es sagte, war es tatsächlich gewesen. Die "Stimme Gottes" war das Stöhnen eines störrischen Esels gewesen.